Sonntag, 8. November 2015

BOOKREVIEW | Joyce, Rachel: The unlikely Pilgrimage of Harold Fry

Pilgerreise Segelschuhe Harold Fry Rezension Rachel Joyce

Er schaute in den Regen hinaus und wartete, dass er aufhörte. Da sah er eine Krähe mit gebeugtem Kopf und tropfnassen Federn, die glänzten wie Pech. Er wünschte, der Vogel würde wegfliegen, aber er blieb triefend und einsam hocken. Maureen war so beschäftigt, dass sie Harolds Abwesenheit kaum bemerkte.
– Seite 149 –

Man weiß, das der Winter nun wirklich da ist, wenn es bereits um fünf Uhr abends stockdunkel ist, und man seine Pläne (vor allem die, die mit Fotografie und hellen Bildern zu tun haben) einfach mal komplett umschmeißen muss. Aber irgendwie hat es was Schönes, ich mag diese Kälte, die vielen Lichter der Stadt, und wenn man etwas außerhalb wohnt, kann man die Sterne sehen. Alles wird ruhiger und alle sind so niedlich bis zur Nasenspitze in Mäntel und Schals eingewickelt.
Ich werde auch weniger unternehmungslustig – was mir wiederum mehr Zeit gibt, in meiner Lieblingswelt zu versinken, den Büchern. Und heute habe ich ein ganz besonderes für euch: Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry.

Er sah sich nicht um. Winkte nicht. Er hatte ihr Profil am Fenster entdeckt und schritt so kühn aus, wie er konnte, denn vielleicht machte sie sich ja Sorgen wegen seiner Blasen oder seiner Segelschuhe; ob sie es sich wohl wünschte, dass er sie nicht allein ließ mit einem Hund und einem Paar Wanderstiefel? Es war nicht einfach, ihr Gast gewesen zu sein. Es war nicht einfach, ein bisschen zu begreifen und dann wegzugehen.
– Seite 176 –

WORUM GEHT’S?
Harold Fry ist ein gewöhnlicher Mann, der seine besten Jahre bereits hinter sich gebracht hat. Seit einem halben Jahr in Pension, seit zwanzig Jahren schläft er nicht mehr im selben Bett wie seine Frau, es gibt nicht mehr viel zu bereden. Kaum etwas, das nicht schon gesagt worden wäre. Er führt ein ruhiges, gewöhnliches Leben. Bis eines Tages der Briefträger einen rosa Brief bringt, einen Brief, in dem seine Kollegin Queenie ihm mitteilt, dass sie sterben werde. Doch nur einen Antwortbrief zu schreiben, das kommt Harold dumm vor. Deshalb geht er am Briefkasten vorbei. Und am nächsten. Und am übernächsten. Und an dem danach auch.

Die Welt bestand aus Menschen, die einen Fuß vor den anderen setzten, und vielleicht kam einem das Leben eines Menschen gewöhnlich vor, nur weil er sehr lange genau das getan hatte: einen Fuß vor den anderen zu setzen. Harold konnte an keinem Fremden mehr vorbeigehen, ohne die Tatsache zu würdigen, dass alle Menschen gleich waren und doch einzigartig, und dass darin das Dilemma des Menschseins bestand.
– Seite 191 –

Rachel Joyce Pilgerreise Harold Fry Rezension

MEIN SENF DAZU
Ich wurde mal wieder sprachlos zurückgelassen, so sprachlos, dass ich erst einmal Pizza essen musste, mir Youtube-Videos über „peinliche“ Emofotos aus der Vergangenheit mir unbekannter Youtuber anzusehen und nun vielleicht die richtigen Worte finden kann. Vielleicht.

Der Protagonist Harold Fry ist ein unglaublich sympathischer Charakter, schrullig, ruhig, mit einem gewöhnlichen Leben, das ganz gewöhnlich im Laufe der Jahre auch ein paar Schattenseiten mit sich gebracht hat. Er ist nichts Besonderes, und trotzdem wächst einem gleich ans Herz, mit seiner schwermütigen Art, seinem Kampfgeist und der nüchternen Gleichgültigkeit, die er seinem Eheleben entgegen bringt. Rachel Joyce hat eine Figur geschaffen, die gleichzeitig so unspektakulär und gewöhnlich ist, und trotzdem etwas Heldenhaftes mit sich bringt.
Und auch sonst hatte die Charakterisierung, ganz gleich, wie kurz der Auftritt der Person in dieser Pilgerreise war, etwas Liebevolles, Behutsames an sich. Denn nicht nur Harold Fry darf seine Geschichte erzählen, es sind viele weitere, allen voran Harolds Frau Maureen und natürlich der immerzu trauernde Nachbar der Frys. Kompliment an Rachel Joyce, diese Detailverliebtheit geben dem Buch diese besondere Atmosphäre, wie man sie auch in Forrest Gump oder Die unendliche Geschichte finden kann.

Der Schauplatz wurde ebenso perfekt ausgewählt, wie die Charaktere. England, das erscheint nicht ganz unrealistisch, nicht unmachbar, und trotzdem nach einer Riesenentfernung. Die Autorin verzichtet gänzlich auf bekannte Schauplätze, und lässt Harold ohne viel Aufsehen zu erregen einfach losmarschieren. Es sind die kleinen Dinge, auf die in Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry Wert gelegt wird, die persönliche Erfahrung, die Vergangenheit und der Personen an sich. Orte spielen nur eine untergeordnete Rolle. Und das ist gut so!

Dieses Buch ist einfach ein Gesamtkunstwerk möchte ich fast sagen. Man spürt, wie eine Idee, die Idee einen Pensionisten quer durch England marschieren zu lassen, ohne Handy, ohne Landkarte, nur um eine Freundin, von der er seit zwanzig Jahren nichts mehr gehört hat, vor dem Sterben an Krebs zu bewahren, verwandelt wurde in etwas Wunderbares, Einzigartiges. Schon als ich dieses Buch vor zwei Jahren in der Buchhandlung in meinen Händen gehalten habe, habe ich gespürt, dass viel harte Arbeit, Leidenschaft und eine ganz kleine, aber umso magischere Geschichte dahinter steckt.
Ich habe Recht behalten.

Eine unglaublich kluge Geschichte über Mut, eine außergewöhnliche Liebe, das Erwachsenwerden und Über-sich-Hinauswachsen, Vergebung und das Loslassen. Ein wundervolles Buch, das in mir das Gefühl hervorruft, etwas aus meinem Leben machen zu wollen, in die Welt hinauszugehen und zu helfen, und wenn es nur ein Lächeln ist, wenn es nur ein Weg ist, den man glaubt gehen zu müssen, auch wenn genau das für alle anderen gar keinen Sinn machen würde.
Und wer jetzt glaubt, dass solche Geschichten nur in Büchern zu finden sind, der sollte sich unbedingt die Geschichte von Eric Hites, besser bekannt als „Fat Guy Across America“ - klick! - ansehen, der ebenfalls auf einer Pilgerreise ist, in der er nicht nur seine Frau zurückgewinnen will (das hat er bereits geschafft) sondern auch seine Gesundheit. Bewundernswert, sowohl Rachel Joyce, die mit Harold Fry einen Antihelden geschaffen hat, als auch Eric Hites.
Das war mal wieder eine ausführlichere Rezension, aber das ist ein Buch, das ich nicht mit wenigen Worten abtun will. Geht unbedingt mit Harold Fry auf diese Pilgerreise. Es lohnt sich.!

Ihr wurde aufs Neue bewusst, wie leicht sich das menschliche Herz immer wieder aus dem Gleichgewicht bringen lässt. Ein junger Mensch, der Rex auf der Straße begegnete, würde ihn als hilflosen verbrauchten alten Mann wahrnehmen, der den Kontakt zur Realität längst verloren hatte. Doch unter seiner wächsernen Haut schlug das Herz in seinem fülligen Körper noch immer mit der Leidenschaft eines Teenagers.
– Seite 255 –

Autor: Rachel Joyce
Titel: Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry
Originaltitel: The Unlikely Pilgrimage of Harold Fry
Genre: Roman
Erschienen: 2012
Verlag: Weltbild GmbH
Umfang: 378 Seiten
ISBN: 978-3-86365-527-3





Rachel Joyce The unlikely Pilgrimage of Harold Fry


He looked out at the rain, waiting for it to break, and saw a crow with its head bowed, its feathers so wet they shone like tar. He wished the bird would move, but it sat sodden and alone. Maureen was so busy she had hardly noticed Harold had gone.
source

You know, it’s really winter, when it’s already dark when your watch says it’s only 5 pm, and you have to knock over all your plans (especially those which include photography and bright pictures). But somehow this season has a special beauty. I like the coldness, all the lights of the city in the dark, and if you’re living a little bit more outside of it, you can see the stars. Everything is getting more silent and everybody wears cosy scarfs up to the nose – that’s so cute!
I’m becoming less adventurous – what gives me more time to flee in my favourite world, the books. And today I’ve got a very special one for you: The unlikely Pilgrimage of Harold Fry.

He didn’t look back. Didn’t wave. He saw her profile at the window and stepped out as keenly as he was able to, because maybe she worries about his blisters or his yachting shoes, if she wished, he wouldn’t let her alone with a dog and a pair of trekking shoes? Being her guest wasn’t easy. It wasn’t easy to conceive a little bit and then going away then.*

WHAT’S IT ABOUT?
Harold Fry is a usual man, which already had left the best years behind him. For a half and a year in retirement, for the last twenty years he hasn’t been sleeping in one bed with his wife, there’s simply not much left to talk about. Hardly something which hadn’t been already said. He has a calm, usual life. Until one day the mailman brought a pink letter, a letter, in which his former co-worker Queenie tells him, that she’s gonna die. But just writing and answering letter, that’s too simple, nearly stupid, Harold thinks. That’s why he moves on, not considering the mailbox. And the next one. And not the one after the next one. And also not the one after this one.

The world was made up of people putting one foot in front of the other; and a life might appear ordinary simply because the person living it had done so for a long time. Harold could no longer pass a stranger without acknowledging the truth that everyone was the same, and also unique; and that this was the dilemma of being human.
- source -

PUTTING MY OAR IN
I was left speechless again, this speechless, that I have to eat some pizza, watch some Youtube videos about “embarrassing” emo pictures from the past of youtubers I don’t even know first, to find now the right words. Maybe I can find them now.

The protagonist Harold is an incredibly loveable character, quirky, silent, with an absolutely normal life, which also brought as normal as it is, some shadow sides with the year. He’s nothing special, but nevertheless he’s a person I easily and quickly took to my heart with his melancholy nature, his fighting spirit and the sober carelessness with what he meets his married life. Rachel Joyce created a figure, which is very unspectacular and usual, and still brings something heroic with it, at the same time.
In general her characterisation, no matter how short the appearance of the person was on this pilgrimage, had something very tender, cautious in it. Because not only Harold Fry is able to tell his story, there are so many more, first of all Harold’s wife Maureen and the naturally always mourning neighbour Rex. A big compliment to Rachel Joyce for such a love for details, because it’s these details which are giving the book this special mood, like you can find it in Forrest Gump or The neverending Story.

The setting is chosen as perfectly as the characters are. England, it doesn’t seem to be unrealistic, not impossible to do and still it’s a huge distance. The author totally quits well known places, and lets Harold just go his way without making much trouble. The small things are the really precious one in The unlikely Pilgrimage of Harold Fry. The personal experience, the past and the people itself. Places aren’t important – and that’s good!

This books is simply and overall piece of art, I’d like to say. One can feel how an simple idea, the idea of letting a retiree ‘taking a walk’ through England, without a mobile, without a map, just to save an old friend, who he hadn’t seen for more than twenty years, from dying at cancer, grew to such a wonderful, unique story. Already as I held this book in my hands for the first time, I guess two years ago, I felt that there’s hard work, passion and a little, but very magical story behind it.
And I’m proved right.

An incredibly intelligent story about courage, an exceptional love, growing up and outgrowing yourself, forgiveness and letting go. A wonderful book, which evokes the feeling in me, to stand up and make something out of my life, walk out into the world and help, even if it’s just a smile, if it’s just a way, you believe you have to go, even if nobody else in the world will ever understand.

And who believes, that such stories only can happen in books or in movies, those of you should definitely check out the story of Eric Hites, better known as “Fat Guy Across America” - click! -, who’s on a pilgrimage too, on what he not only wants to regain his wife (what he actually did), but also his health. Admirable, both, Rachel Joyce who created with Harold Fry a loveable anti-hero, and Eric Hites.

That was a kind of more extensive bookreview again, but it’s a book, I don’t want to describe in a few words. Go on this pilgrimage with Harold Fry! It’s really worth it.




*freely translated from the German version, couldn't find the English one

written by Casey.

1 Kommentar:

  1. Wow, das klingt wirklich gut. Ich glaube, das muss ich auch mal lesen!
    LG, Solveig

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